Die Wurzeln der Raumfahrt – Rüstung auf dem Prüfstand (Teil VII)

Mit den nachfolgenden Ausführungen von Dr.-Ing. Wernicke möchte ich seine Stellungnahme zu dem Werk von Dr. Aumann, Rüstung auf dem Prüfstand, abschließen.

Zum Problem Militärisch-industriell-akademischen Komplex führt Herr Wernicke weiter aus:

Der Autor (Aumann) beklagt, die jungen Physiker und Ingenieure, die über Raketenthemen promovierten, hätten keine akademischen Freiheiten genossen, konnten nicht „von sich aus ihr Arbeitsgebiet wählen noch sich mit Kollegen außerhalb ihres Projekts austauschen oder ihre Forschungsinteressen selbständig ändern (S. 64)

Dazu ist anzumerken: In der gleichen Situation – einschließlich strikter Zielvorgaben und Vertrauensverpflichtungen – befindet sich heute wie damals ein Wissenschaftler, der bei einem zivilen Technologieunternehmen angestellt ist und dem dieses Unternehmen die Möglichkeit gibt und Erlaubnis erteilt, neben seiner Berufstätigkeit an einer Hochschule zu promovieren. Hier handelt es sich um arbeitsrechtliche Normalität, keineswegs um eine Besonderheit eines vermeintlichen „militärisch-industriell-akademischen Komplexes“ der 1920er und 1930er Jahre.

Ferner behauptet der Autor, neben dem militärischen Charakter „war die Raketentechnik, wie jede andere Wissenschaft nach 1933, auch fundamental nazifiziert“. Zum vermeintlichen Beleg führt er den „Ariernachweis“ an, den der Kummersdorfer Mitarbeiter Glimm 1935 zu seiner Promotion an der Universität Berlin vorlegen musste (S. 64). Diese administrative Verpflichtung durch das NS-Regime traf jedoch damals alle Doktoranden, unabhängig von ihrer persönlichen Einstellung zum NS-Staat. Dass die Arbeitsweise der Kummersdorfer Doktoranden oder fachlichen Betreuer „nazifiziert“ gewesen sei, ist daraus nicht abzuleiten. Eine NSDAP-Mitgliedschaft des an der Universität Berlin Doktoranden betreuenden Professor Becker, zugleich Abteilungsleiter im HWA, später General der Wehrmacht, oder seines für das Raketenprojekt zuständigen Mitarbeiters und späterer Wehrmachtsgenerals Dornberger behauptet der Autor in deren informativen Kurzlebensläufen nicht (S. 46 und 57). Es ist also nicht erwiesen und eher unglaubwürdig, dass die Kummersdorfer Raketenentwicklung in den Jahren 1933 und 1934 „nazifiziert“ waren.

Der Autor beschreibt die hoch temperaturfesten Graphit-Strahlruder der Raketen A3 und A4 als vermeintliche Beispiele für Autarkiebestrebungen des NS-Regimes (S. 85). Es muss jedoch der historische Kontext betrachtet werden: Die englische Seeblockade gegen Deutschland hatte nach dem Waffenstillstand 1918 noch über ein halbes Jahr fortbestanden, bis zur Versailler Vertragsunterzeichnung. War angesichts solcher Erfahrung der Gedanke verminderter Importabhängigkeit völlig unbegründet oder sogar verwerflich?

Und nun zum konkreten Vorgang: Der Ersatz des teuren temperaturfesten Materials Molybdän durch das weit billigere Graphit war eine technisch erstaunliche und wirtschaftlich gebotene Entwicklungsleistung, die bei solcher Problemstellung auch heute genauso angestrebt würde, ungeachtet der in- oder ausländischen Herkunft des Materials.

Unser Vereinsmitglied, Herr Prof. Dr.-Ing. J. Wernicke, stellt abschließend fest:

Man mag zu Recht den damals jungen Wissenschaftlern und Technikern, die im Zeitraum 1932 bis 1934 in Kummersdorf an der Entwicklung von Flüssigkeitsraketen mitwirkten, ihre spätere Verwicklung mit dem NS-Regime vorwerfen, sei es, dass sie opportunistisch handelten oder verführt waren.

Es ist aber unbegründet, diese frühen, doch technisch grundlegenden Raketenentwicklungen in Kummersdorf als Vorbereitung der Reichswehr auf einen Angriffskrieg oder gezielten Vorlauf für die anschließenden Angriffskriege des NS-Regimes darzustellen.

Vielmehr hatten diese frühen Raketenarbeiten in Kummersdorf mit dem NS-Regime und der Vorbereitung eines Angriffskrieges nichts zu tun.

Mit diesen letzten Worten schließen wir die interessante Stellungnahme von Herrn J. Wernicke ab.

Ein Hinweis an unsere Leser: Herr Wernicke hat eine Buchbesprechung über Stalins V–2, von Matthias Uhl, verfasst. Wir werden uns im nächsten Infoblatt damit beschäftigen.

Das Buch von Matthias Uhl, Stalins V-2 – Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959 hat die ISBN 978-3-86933-176-8, 304 Seiten, Großformat

Bonn 2016: Bernard & Gaefe/Mönch, Lizenzausgabe Helios

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