Eine Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil I)

Ich hatte im letzten Infoblatt angekündigt, dass sich Dr.-Ing. Joachim Wernicke mit dem Buch von Matthias Uhl – „Stalins V2“ – eingehend befasst hat. Um den Lesern dieses nahe zu bringen, hat er für das Infoblatt eine gestraffte Buchbesprechung erarbeitet. Ich möchte nun diese in mehreren Folgen im Infoblatt veröffentlichen.
Der Titel des Buches lautet in voller Länge:

Stalins V2 – Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959.

Bonn 2016:

Bernard & Gaef/Mönch, Lizenzausgabe Helios, ISBN 978-3-86933-176-8, 304 Seiten, Großformat



Nun zu den Ausführungen von Herrn Wernicke:

Bei dem Buch handelt es sich um die aus dem Jahr 2000 stammende Doktorarbeit von Matthias Uhl an der Universität Halle-Wittenberg. Als Historiker am Deutschen Historischen Institut in Moskau war er erstmal in der Lage, in großem Umfang amtliche sowjetische Quellen zur Übernahme der deutschen Raketentechnologie nach dem Zweiten Weltkrieg auszuwerten. Dadurch ergibt sich ein Gesamtbild, das landläufige Vorstellungen zu der Thematik korrigiert.

Um es vorweg zu nehmen: Das Buch liest sich spannend wie ein Krimi. Und es beeindruckt nicht nur die Fülle der Detailangaben, sondern auch die Übersicht des Autors über die komplizierten Behördenverflechtungen innerhalb des Sowjetsystems. Auch erscheint es überraschend, auf welche Informationsoffenheit Matthias Uhl beim Einblick in russische Archive offenbar traf, obwohl seine Forschungsergebnisse nicht dem Tenor der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung entsprachen.

Vor Kriegsende 1945

Der erste Start der GIRD-09 Rakete war am 17. August 1933 und erreichte eine Höhe von 400 Meter

Bild: www.mentallandscape.com/S_GIRD.htm

Die Anfänge der sowjetischen Flüssigkeitsraketentechnik gehen auf die frühen 1930er Jahre zurück und hatten von Beginn an militärische Zielsetzung. 1933 erreichte erstmals eine 18 kg schwere Rakete des Instituts „GIRD“ 400m Höhe. Im selben Jahr entstand das „Reaktive Forschungsinstitut“ (RNII). Dort waren Techniker tätig, die die spätere Entwicklung entscheidend bestimmen sollten, darunter Sergei Koroljow und Walentin Gluschko. Förderer der Arbeiten war Marschall Michail Tuchatschewski. Durch den deutschen Spion Willy Lehmann, im nationalsozialistischen „Reichssicherheitshauptamt“ tätig, erhielt die sowjetische Führung laufend Informationen über deutsche Rüstungsprojekte.

1937 erreichte eine Flüssigkeitsrakete des RNII 12 km Schussweite. In diese Zeit fiel allerdings eine der stalinistischen „Säuberungen“. Tuchatschewski und leitende Mitarbeiter des RNII wurden verhaftet und erschossen. Koroljow und Gluschko verschwanden 1938 auf Jahre in Straflagern.

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 setzte die Rote Armee massenhaft feststoffgetriebene Artillerieraketen ein. Die dortige Entwicklung von Flüssigkeitsraketen stagnierte. Nachdem der Spion Lehmann 1942 enttarnt und erschossen worden war, fehlte der sowjetischen Führung der Informationskontakt über die deutsche Raketenentwicklung. Doch Mitte 1944, auf dem Vormarsch durch Polen, fand die Rote Armee Raketentrümmer aus den dortigen V-2-Versuchsschüssen. Eilig wurde zur Begutachtung des Materials aus den Resten des RNII-Personals eine Gruppe von Raketentechnikern zusammengestellt. Darunter befanden sich Koroljow und Gluschko, die hierzu aus dem Straflager entlassen worden waren.

Ende 1944 bestand in Moskau eine recht genaue Vorstellung über Technik und Leistungen der V-2. Im April 1945 fiel die Entscheidung, deutsche Rüstungstechnologie, darunter die V-2 und die Flugabwehrrakete „Wasserfall“, möglichst vollständig zu erbeuten.

Nach dem alliierten Bombenangriff auf die Raketenentwicklungsstelle Peenemünde im August 1943 war die Produktion der V-2 in unterirdische Stollen im Harz, bei Nordhausen, verlegt worden, in das „Mittelwerk“. Ein großer Teil der Peenemünder Techniker war dorthin versetzt worden. Häftlinge aus Konzentrationslagern hatten ab Herbst 1943 die Stollen ausbauen und dort Anfang 1944 Flügelbomben „V-1“, Raketen „V-2“ und Flugtriebwerke herstellen müssen. Ein Drittel der 60.000 Häftlinge, die dort eingesetzt waren, kam durch die unmenschlichen Verhältnisse zu Tode.

Im neuen Infoblatt des Jahres 2019 wird der nächste Abschnitt der Buchbesprechung:
Ab Kriegsende“ behandelt.

Nach Veröffentlichung seiner Kummersdorf-Stellungnahme schreibt uns Herr Wernicke:

Vielen Dank auch für die Bereitschaft, auch meine Buchbesprechung zu Uhl, Stalins V-2, aufzugreifen. Inzwischen hatte ich durch einen Zufall Gelegenheit, mit dem Ballistiker, Sohn des bei Uhl auch erwähnten Dr. Waldemar Wolff, zu sprechen, Dr. Helmut Wolff, Schöneiche bei Berlin. Er war im jugendlichen Alter auf der Insel Gorodomlija aufgewachsen, hatte später in Leningrad/Petersburg studiert, wurde in der DDR der führende Fusionsphysiker und ist nach wie vor in Kontakt mit der Historikergruppe auf Gorodomlija. Alles eine spannende Geschichte, zu deren Sicherung Sie mit dem Verein, meines Erachtens, einen unschätzbaren Beitrag leisten, selbst wenn das zurzeit nicht „in Mode“ ist.“

Kf