Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil II)

Wie im letzten Infoblatt 2018 angekündigt, führe ich die Buchbesprechung von Dr.-Ing. Joachim Wernicke fort.
Der nächste Abschnitt lautet:
„Ab Kriegsende“

Als die amerikanische Armee im April 1945 das voll funktionsfähige Mittelwerk einnahm, waren dort 5.700 V-2 und 6.300 V-1 gebaut worden, und große Materialmengen lagerten dort. Von der V-2, aus über 20.000 Einzelteilen bestehend, waren im Mittelwerk nur die Zellen hergestellt worden, und die Raketen wurden dort zusammengebaut, aus Baugruppen, die von Industriefirmen zugeliefert wurden.

 Angehörige der US Air Force während einer Besichtigung des Mittelwerks Foto: U.S. Air Force,


Bis zur vereinbarten Übergabe Thüringens an die Sowjets am 1. Juli 1945 hatte die amerikanische Armee aus dem Mittelwerk 100 fertige V-2 und etliche Spezialgeräte abtransportiert. Auch war der technische Leiter, Wernher von Braun, mit 120 führenden Technikern geschlossen zu den Amerikanern übergewechselt, und die komplette technische Dokumentation der Peenemünder Arbeiten war in amerikanische Hände gelangt. Die Briten, bei diesem Beutezug nahezu leer ausgegangen, forderten, das Mittelwerk vor der Übergabe an die Sowjets zu zerstören. Doch der amerikanische General Dwight Eisenhauer (1890-1969) lehnte dies ab, mit der Begründung, die Anlage berge keine Geheimnisse mehr, alle wesentlichen Informationen hätten die Sowjets bereits aus Polen und Peenemünde erhalten.

So fand die sowjetische Expertengruppe im Juli 1945 das funktionsfähige Mittelwerk vor, mit ca. 2.000 Produktionsmaschinen und großen Materialmengen, darunter 75 kompletten V-2-Triebwerken, einige hundert Turbopumpen und Teile für den Zusammenbau von mindestens 10 Raketen. Sehr schnell wurde klar, dass es mit der Demontage und dem Abtransport dieser Anlagen nicht getan wäre, sondern dass die Übernahme der neuen Technologien ein aufwendiges Programm erfordern würde. Es ging um Dutzende Baumuster von damals weltweit einzigartigen Raketen und Strahlflugzeugen.

Offenbar war die Mitwirkung deutscher Techniker hier unverzichtbar. Für deren Verlegung in die Sowjetunion fehlten aber dort die Voraussetzungen. So kristallisierte sich die Lösung heraus, dass der Technologietransfer vor allem in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands erfolgen müsse. Erst zu einem späteren Zeitpunkt würden deutsche Techniker in die Sowjetunion geholt. Eine dauerhafte Einbindung deutsche Techniker in sowjetische Rüstungsprogramme war von Anfang an nicht vorgesehen.

A4-Rakete im Mittelwerk. Aufnahme vom Juli 1945 Foto: U.S. Air Force

Im Mittelwerk hatten inzwischen die Demontagen von Ausrüstungen begonnen, zum Abtransport in die Sowjetunion. Diese Demontagen und Transporte erfolgten im gesamten sowjetisch besetzten Gebiet nach einem detailliert ausgearbeitet Plan, der bereits im September 1944 begonnen worden war, unter Federführung der staatlichen Plankommission „GOSPLAN“. Experten der beteiligten sowjetischen Fachministerien waren für den fachgerechten Abbau der Anlagen zuständig, während „Trophäenbrigaden“ der Roten Armee Arbeitskräfte für Demontage und Transport bereitstellten. Weil die Arbeitskräfte nicht ausreichten, zog die Rote Armee auch ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter hinzu… Schließlich wurden für die Demontage der Mittelwerke auch deutsche Zivilisten zwangsverpflichtet, insbesondere ehemalige dortige Mitarbeiter und Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten, die es nach Thüringen verschlagen hatte. Diese Absaugung der vor Ort verfügbaren Arbeitskräfte erschwerte die Beseitigung von Kriegsschäden im stark zerstörten Nordhausen. Ende 1945 sollten die Demontagen der unterirdischen Fabrik offiziell abgeschlossen sein. Tatsächlich zogen sich die Arbeiten bis zum Frühjahr 1948 hin.

Auf Weisung Stalins wurden bereits im Juli 1945 sowjetische Spezialisten nach Nordhausen geschickt, mit Vollmachten gegenüber der sowjetischen Militärverwaltung. Etwa September 1945 gingen die Mittelwerke wieder in Betrieb. Namenslisten der früheren Mitarbeiter des Mittelwerkes lagen vor. So erhielten etliche von ihnen das attraktiv erscheinende Angebot, in ihre alten Arbeitsverträge wieder einzusteigen, unter gleichen Konditionen und bei bevorzugter Versorgung mit rationierten Lebensmitteln. Diesmal nicht unter nationalsozialistischer, sondern unter sowjetischer Leitung.

Im nächsten Infoblatt wird die Buchbesprechung mit dem Abschnitt: Das „Institut Rabe“ fortgesetzt.
kf