Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil III)

Wir möchten die Buchbesprechung von Dr.-Ing. Joachim Wernicke mit dem Abschnitt

Das Institut Rabe“ fortführen:

Die sowjetische Spezialistengruppe, unter Führung von Boris Tschertok und Alexei Issajew, richtete im Juli 1945 in Bleicherode, nahe dem Mittelwerk, das „Institut Rabe“ ein, in Abkürzung für „Raketenbau und – Entwicklung“. Dieser Ort bot sich an, denn das Peenemünder Entwicklungszentrum war wenige Monate zuvor mit fast 3.000 Mitarbeitern dorthin verlagert worden. Den größten Teil der aus Peenemünde mitgebrachten Ausrüstungen und technischen Unterlagen hatten zwar die Amerikaner mitgenommen, aber es waren Messgeräte und Ausrüstung verblieben, die den Neuanfang erleichterten, und ein großer Teil der ehemaligen Peenemünder Techniker wohnte zu der Zeit in der Region.

Neben dem nahen Mittelwerk war es auch vorteilhaft, dass eine Reparaturwerkstatt für beschädigte V-2 voll in Betriebsbereitschaft war (in Kleinboden), ebenso ein Abnahmeprüfstand für die Funktionstüchtigkeit von bis zu 40 V-2-Triebwerken täglich, mit eigenem Werk für Flüssigsauerstoff und einem Vorrat an 200 neuen, noch nicht getesteten Triebwerken (in Lehesten bei Saalfeld). Die Amerikaner hatten diese Anlage nicht beachtet.

Auch traf es sich gut, dass die Amerikaner nur 50 km entfernt, im hessischen Witzhausen, aus Bleicherode und Nordhausen mitgenommene deutsche Raketenspezialisten interniert hatten, die dort für ihre speziellen Qualifikationen keine berufliche Perspektive mehr sahen. So gelang es den Sowjets, Helmut Gröttrup, Spezialist für Raketenlenkung und ehemaliger Vertrauter Wernher von Brauns, ab September 1945 für die Leitung des neuen Instituts Rabe zu gewinnen.

Sogar aus den Westzonen kamen Experten aus verwandten Fachgebieten zum Institut Rabe, so der Kreiselspezialist Kurt Magnus und der Aerodynamiker Werner Albrina. Diese Anwerbungen erfolgten zunächst auf der Grundlage der Freiwilligkeit, obwohl im Hintergrund die Drohung des sowjetischen Geheimdienstes „NKWD“ allgegenwärtig war. Im September 1945 komplettierte sich auch das sowjetische Team von Raketenexperten, mit der Ankunft von Koroljow und Gluschko.

Ziel war es, die sowjetischen Techniker zu befähigen, eigenständig V-2-Raketen nachzubauen und weiterzuentwickeln.

Die Montage von V-2-Raketen durch deutsche Techniker, unter sowjetischer Aufsicht, erfolgte ab Oktober 1945 nicht mehr in den unterirdischen Stollen des Mittelwerkes, sondern in dem ehemaligen Reparaturwerk in Kleinboden. Dort waren noch die kompletten Prüfanlagen für die Endkontrolle der Raketen vorhanden.

Ende 1945 waren rund 250 sowjetische und 1.200 Techniker im Institut Rabe und seinen Außenstellen beschäftigt. Eine NS-Vorgeschichte war kein Hindernis für die Mitarbeit. Acht V-2-Raketen waren bereits gemeinsam montiert worden. Die Arbeiten genossen das Wohlwollen der Moskauer Führung, auch dadurch, da sie durch General Gajdukow betreut wurden, Schwiegersohn des Politbüromitglieds Georgi Malenko.

Die planwirtschaftliche sowjetische Industrie wurde durch Fachministerien geführt, an der Spitze stand jeweils ein „Volkskommissar“. Zwischen den Ministerien bestanden Konkurrenzen. Im Herbst 1945 war klar, dass das Raketenprojekt nur erfolgreich sein konnte, wenn es unter der Führung eines Ministeriums konzentriert war. Fachlich standen dabei drei zur Auswahl: Das Ministerium für Luftfahrtindustrie, das für Munition oder das für Bewaffnung. In einer Unterredung mit Stalin erhielt Gajdukow den Auftrag, einen Vorschlag für die Auswahl auszuarbeiten.

Der Minister für Luftfahrtindustrie war gegen Innovationen eingestellt, weil dadurch die Produktionszahlen für seine Planerfüllung gefährdet würden, damit auch seine persönliche Position. Auch fürchtete er von den Raketen einen Bedeutungsverlust der Luftwaffe. Der Minister für Munition war seit Kurzem in die Entwicklung der sowjetischen Atombombe eingebunden und sah deshalb Raketen als weniger wichtig an. So blieb der Minister für Bewaffnung, Dimitri Ustinow, mit seinem Ministerium in einer Randrolle als Zulieferer für andere Ministerien.

Ustinow zögerte, die neue Aufgabe zu übernehmen. Er schickte seinen Stellvertreter Vasilij Rjabikow nach Deutschland, um eine Einschätzung der Situation zu erhalten. Gajdukow und Koroljow präsentierten dem Besucher die Einrichtungen des Institut Rabe, einschließlich eines Probelaufs des V-2-Triebwerks. Rjabikow war wie erwartet beeindruckt.

Eine weitere gewichtige Stimme war der Artilleriegeneral Nikolai Jakowlew, der für Fernraketen eine große Zukunft sah. So entschied sich Ustinow, die Leitung des Raketenprojekts zu übernehmen. Dies sollte ihn zu einer Karriere bis zum Amt des Verteidigungsministers bringen.

Anfang 1946 konnten Gajdunow, Ustinow, Koroljow und Jakowlew gemeinsam Tendenzen im Zentralkomitee der Kommunistischen Partei abwenden, die Arbeiten in Deutschland abzubrechen und die sowjetischen Spezialisten zurückzuholen. Stattdessen wurden die Arbeiten noch erweitert. Aus dem Institut Rabe wurde das „Institut Nordhausen“ für die Rekonstruktion der Fernrakete V-2. Mit Koroljow und Gröttrup erhielt das Institut eine technische Doppelführung, für den Zweck des schnellen und reibungslosen Technologietransfers. Die größte Gruppe der deutschen Experten fand sich in der Abteilung Lenkung, mit 83 Technikern. Leiter V2-Triebwerksproduktion, in Nordhausen angesiedelt, wurde Erich Apel, der ab 1944 den V-2-Reparaturbetrieb in Kleinbodungen geleitet hatte. Er sollte später Karriere in der DDR-Staatsführung machen.

Im Februar 1946 gründete Gajdunow in Berlin ein weiteres Institut, für die Rekonstruktion deutscher Flugabwehrraketen, darunter „Wasserfall“. Die Einrichtung erhielt den Namen „Institut Berlin“ und unterhielt Außenstellen u. a. in Zittau, Leipzig, Leuna und Peenemünde.

Die Gesamtzahl der Mitte 1946 in der sowjetischen Besatzungszone mit Raketen beschäftigten Techniker lag bei ca. 7.000, davon ca. 1.000 sowjetische Experten.

Der Schwerpunkt der sowjetischen Fernraketenentwicklung lag 1945/46 nicht in der Sowjetunion, sondern in Thüringen.

Der Umfang war durchaus vergleichbar mit den Peenemünder Entwicklungsarbeiten während des Krieges.

Über die weitere Entwicklung ab 1946 berichten wir im nächsten Infoblatt.

kf