Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil IV)

In diesem Teil der Buchbesprechung von Dr.-Ing. Joachim Wernicke geht es um den Umfang der sowjetischen Anstrengungen bei der weiteren Entwicklung ihrer Fernraketen.
Der Schwerpunkt lag auf der Rekonstruktion der V-2-Herstellung.
Aber die sowjetischen Techniker lernten von ihren deutschen Anleitern auch die Schwachstellen der Rakete kennen und entwickelten eigene Verbesserungsvorschläge. Unter der Leitung von Issajew wurde der Triebwerksschub der V-2 bei den Versuchen in Lehesten von 25 auf 35 t gesteigert.

An der V-2-Rekonstruktion waren nicht nur die Institute Nordhausen und Berlin beteiligt, sondern auch Betriebe in der sowjetischen Besatzungszone, die in der Lage waren, benötigte Komponenten herzustellen. So produzierten die Zeiss-Werke- Jena Kreiselgeräte für V-2-Raketen, die zuvor bis Kriegsende in Siemens-Werken hergestellt worden waren.

Zum Herbst 1946 war die Rekonstruktion der V-2 als abgeschlossen zu betrachten. Die sowjetischen Experten hatten die komplizierte Lenkung der Rakete vollständig verstanden und waren auch in der Lage, die Endkontrolle ohne deutsche Hilfe durchzuführen. Die technischen Unterlagen waren wiederhergestellt oder vervollständigt. Mitgeholfen hatte, dass die Rote Armee in Prag und Wien Originalunterlagen zur V-2 aufspüren konnte.

Die sowjetischen Spezialisten hatten über ein Jahr lang de facto ein praxisnahes Studium in Deutschland absolviert und hatten eine Anzahl V-2 flugfertig zusammengebaut. Schon ab Ende 1945 waren sowjetische Soldaten in der Einsatzhandhabung der Rakete ausgebildet worden. Anfang 1946 beherrschten sie den gesamten Startablauf, vom Transport und dem Aufrichten der Rakete über Funktionskontrollen und Betankung, bis zum realen Betrieb der Turbopumpen. Lediglich die Zündung unterblieb bei diesen Übungen.

Im Juni 1946 wurde auf dieser Grundlage in der sowjetischen Besatzungszone eine erste Brigade von Raketentruppen aufgestellt, mit dem Stationierungsort Berka. Im Oktober 1946 sollten sechs sowjetisch montierte V-2 in Peenemünde abgefeuert werden, doch Stalin verbot diese Tests. Offenbar befürchtete er diplomatische Verwicklungen, sollte eine Rakete außerhalb sowjetisch besetzten Gebietes einschlagen. Die ganze Angelegenheit war ja ein Verstoß gegen das Potsdamer Abkommen.

So sollten die Versuchschüsse in der Sowjetunion stattfinden, und zwar in Kapustin Jar, einem Steppengelände, 80 km östlich von Wolgograd. Allerdings gab es dort noch keinerlei Infrastruktur. Deshalb gaben die sowjetischen Techniker einen Eisenbahnzug in Auftrag, von dem aus die gesamte Erprobung autark erfolgen konnte, nur ein Schienenstrang wurde benötigt. Der Zug umfasste 72 Spezialwagen einschließlich Labors, Testeinrichtungen, Funkgeräte, Stromaggregate, fünf Wagen für die Unterbringung des Personals, zwei Salonwagen, einen Lazarettwagen und einen gepanzerten Wagen für den Start der Rakete. Die Endmontage des Zuges erfolgte im Waggonbau Gotha.

Im Herbst 1946 war die Serienproduktion der V-2 in Thüringen und in der Sowjetunion angelaufen. 29 Raketen mit der Bezeichnung „A-4/N“ waren mit deutschen Technikern in Kleinbodungen montiert worden. Teile für weitere 10 Raketen gingen in die Sowjetunion und wurden in einem Moskauer Versuchswerk zusammengebaut, als „A-4/T“.

Damit schien der Weg für Weiterentwicklungen offen. Die Reichweite 300 km erschien zu kurz… Die Reichweite sollte auf 600 km gesteigert werden. Ein deutsches Team und ein sowjetisches Team arbeiteten parallel, aber unabhängig an diesem Thema. Ein weiteres begonnenes Projekt war eine Rakete mit 1.500 km Reichweite. Koroljow beschrieb als wertvollstes Ergebnis der gut einjährigen Zusammenarbeit in Deutschland, dass ein „Kollektiv von Gleichgesinnten“ entstanden sei.

Alle diese Raketenarbeiten erfolgten unter strikter Geheimhaltung, vor allem gegenüber den Westmächten. Der Geheimdienst NKWD, als Teil der sowjetischen Besatzungsarmee getarnt, schirmte die beteiligten Einrichtungen militärisch ab. Der amerikanische und der britische Geheimdienst versuchten, Agenten einzuschleusen, anfangs mit Erfolg, aber ab Oktober 1945 vergeblich. Die Informationssperre durch den NKWD wirkte, so dass die westlichen Geheimdienste den Umfang der sowjetischen Bemühungen unterschätzten.

Die deutschen Techniker schienen nicht auszureichen. So wurden in den Westzonen lebende ehemalige Peenemünder Techniker mit familiären Bindungen unter Vorwänden über die Zonengrenze gelockt, verhaftet und zur Arbeit für die Sowjets gezwungen. Auch wurden die sowjetischen Straflager nach deutschen Raketentechnikern durchkämmt. Auf diesem Wege kamen auch stark NS-Belastete Techniker in die Teams des Instituts Nordhausen, zum Befremden ihrer deutschen Kollegen.

Im Mai 1946 war entschieden worden, dass Ende des Jahres alle raketentechnischen Arbeiten in die Sowjetunion verlegt werden sollten, unter Mitnahme der für wesentlich gehaltenen deutschen Techniker.

In einer größeren Aktion des Geheimdienstes sollten an einem bestimmten Tag deutsche Techniker aus dem Raketenbereich, aber auch aus anderen für die Sowjets wichtigen Fachgebieten wie Luftfahrt, Chemieindustrie, Optik und Elektrotechnik gleichzeitig festgenommen und mit ihren Familien in die Sowjetunion verschleppt werden.

Diese Deportation beschreibt Herr Wernicke sehr ausführlich. Wir berichten darüber im nächsten Infoblatt.

kf