Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil V)

Wie im letzten Infoblatt angekündigt, fahre ich mit der Buchbesprechung von Dr.-Ing. Joachim Wernicke fort.
Nachdem die Aktion der Sowjets mit der Festnahme von wichtigen deutschen Spezialisten angelaufen ist, geht es im nächsten Abschnitt um

Die Deportation

Der bestimmte Tag war der 22. Oktober 1946. Mit nur wenigen Stunden zum Einpacken wurden 2.500 ausgesuchte deutsche Techniker mit 4.600 Familienangehörigen in die Sowjetunion deportiert, mit der Ankündigung, „bis zu fünf Jahre“ dort arbeiten zu müssen. Rund 300 der betroffenen Techniker gehörten zum Raketenbereich, von ihnen hatten 85% eine akademische Ausbildung. Die überwiegende Mehrheit der Verschleppten kam aus dem Luftfahrtbereich, in dem, anders als im Raketenbereich, ein Technologietransfer gelungen war.

Parallel zur Deportation der deutschen Techniker kamen Ausrüstungsteile für die Raketenprojekte in die Sowjetunion, bis Februar 1947 rund 14.000 t. Das war das 35-Fache der Materialmenge, die die amerikanische Armee im Mai und Juni 1945 aus dem Mittelwerk abtransportiert hatte. Allerdings war der Empfang dieser Ausrüstung schlecht vorbereitet. Weil Werkhallen fehlten, lagerten Teile der Lieferung bei Wind und Wetter im Freien. Zur Errichtung der benötigten Bauten wurden vorübergehend auch deutsche Kriegsgefangene herangezogen. Erst Ende 1947 waren die zerlegten und aus Deutschland herangeschafften Anlagen überwiegend wieder montiert.

Zentrum der Raketenentwicklung in der Sowjetunion wurde das Institut NII-88 in Podlipki nahe Moskau. Das V2-Projekt stand unter der Leitung von Koroljow, der ab September 1946 eine eigene Forschungsabteilung erhielt. Der Triebwerksspezialist Issajew bearbeitete die Flugabwehrrakete Wasserfall.

Im NII-88 stellte sich 1947 die Grundsatzfrage, ob zunächst die V-2 eins zu eins kopiert werden soll oder ob gleich mit der Behebung von deren bekannten Mängeln und mit der Weiterentwicklung begonnen werden sollte. Ustinow plädierte für die Kopie, und Stalin stimmte ihm zu: „zuerst werden wir die Rakete kopieren und dann unsere eigene bauen.“

Diese Entscheidung erwies sich im Nachhinein als richtig, denn 1947 fehlten in der Sowjetunion noch wesentliche Grundlagen, insbesondere in den Bereichen Elektronik und Materialtechnologie. So konnte die sowjetische Industrie von den 86 verschiedenen Stahlsorten, die in der V-2 verwendet waren, nur 32 herstellen, von den 87 nichtmetallischen Werkstoffen nur 48. Besondere Probleme in der Nachahmung bestanden bei Gummidichtungen. Deshalb plädierte Koroljow dafür, die deutschen Techniker auch für die Qualitätssteigerung der sowjetischen Kopiearbeiten heranzuziehen.

Für Oktober 1947 waren die ersten Versuchsschüsse auf dem Erprobungsgelände Kapustin Jar geplant, und zwar sowohl mit Raketen der sowjetischen montierten Serie „/T“ als auch der deutschen Serie „/N“.

Der erste Start einer rekonstruierten V-2 erfolgte am 18. Oktober 1947. Es handelte sich um eine Rakete aus der Serie /T. Der Flug war nur ein Teilerfolg, zwar mit über 200 km Flugweite, aber mit 30 km Zielabweichung und einem „Luftzerleger“: Beim Wiedereintritt in die dichten Atmosphärenschichten zerriss die Rakete unter den aerodynamischen Kräften. Die zweite Rakete, wiederum aus der Serie /T, flog in eine völlig falsche Richtung. Zeugen der Ereignisse waren Ustinow, Jakowlew und der Geheimdienstchef Iwan Serow, der den sowjetischen Technikern bei weiteren Misserfolgen gemeinschaftliche Bestrafung androhte.

Ustinow befahl daraufhin, zur Fehleranalyse die deutschen Experten hinzuzuziehen. Dies war ein beleidigender Affront gegen seine sowjetischen Techniker. Gröttrup fühlte sich nicht sachkundig genug für eine Einschätzung. Er ließ die Lenkungsspezialisten Kurt Magnus und Johannes Hoch heranholen. Die beiden überprüften die Messprotokolle, stellten als Fehlerursache Vibrationen fest und bauten einen zusätzlichen Signalfilter ein.

Derweil hatte ein dritter Flug stattgefunden, wiederum ein Fehlschlag. Daraufhin verlangte Ustinow von den deutschen Technikern in einer nächtlichen Sitzung die Garantie, dass der vierte Flug – mit zusätzlichem Signalfilter – erfolgreich würde. Der Flug wurde ein voller Erfolg, mit der geforderten Treffgenauigkeit. Alle atmeten auf.

Doch nun beschuldigte Ustinow die Deutschen, sie hätten die fehlgeschlagenen Flüge bewusst sabotiert, um ihren Einfluss zu vergrößern. Koroljow nahm die Deutschen in Schutz. Der fünfte Flug, ohne deutsche Hilfestellung, schlug wieder fehl. Die sechste abgefeuerte Rakete war aus der deutschen montierten Serie /N. Der Flug gelang. Von elf Abschüssen waren schließlich fünf erfolgreich, zwei sogar sehr treffgenau.

Dies war insgesamt ein respektables Ergebnis. Es belegte die Fähigkeit der sowjetischen Techniker, die V-2 zu kopieren und einzusetzen. Auch bei der Rekonstruktion der funkgesteuerten Flugabwehrrakete Wasserfall gab es gute Fortschritte.

1948 wurde die Zusammenarbeit mit den deutschen Technikern abrupt beendet. Warum und wie es dazu kam, wird im nächsten Infoblatt behandelt, unter der Rubrik: Die Isolation

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