Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil VI)

Dr.-Ing. Joachim Wernicke untersucht in seiner Buchbesprechung in der Rubrik „Die Isolation“ wie es den deutschen Spezialisten weiterhin in der Sowjetunion erging.

Die Isolation

Die Beiträge der Deutschen wurden von der sowjetischen Führung ausdrücklich gewürdigt. Doch auf der kollegialen Ebene der Raketentechniker gab es aus Konkurrenzgründen Unmut. Die Behauptung kam auf, die Deutschen seien auf dem Stand 1944/45 stehen geblieben, und sie seien mit dem dreifachen Gehalt eines gleichrangigen sowjetischen Fachkollegen zu teuer.

Etwas Anderes kam hinzu: Im Zuge des Kalten Krieges machte sich in der sowjetischen Regierung ein neuartiger Nationalismus breit, der sich gegen westliche Einflüsse wandte. Eine wissenschaftlich-technische Überlegenheit der Sowjetunion gegenüber Amerika und Westeuropa wurde behauptet. Minister Ustinov schwenkte auf diese Linie ein.

So wurde 1948 die Zusammenarbeit mit den deutschen Technikern abrupt beendet. Sie wurden auf die Insel Gorodomlija im Seligsee, 300 km nordwestlich von Moskau, abgeschoben und waren damit isoliert. Die benachbarte Kreisstadt durften sie nur mit Bewachung besuchen. Zwar erhielten sie Entwicklungsaufträge, darunter die Fortsetzung der Arbeiten an der V-2-Verbesserung auf eine


Insel Gorodomlja (Skizze des deutschen Kollektivs 1946–1952) Grinyov

Reichweite von 600 km und an dem Entwurf einer Rakete mit 3.000 km Reichweite. Doch sie hatten keinerlei praktische Erprobungsmöglichkeiten mehr. Auch erfuhren sie nicht, was ihre sowjetischen Auftraggeber mit ihren Arbeitsergebnissen machten, und sie durften an keinen Flugtest mehr teilnehmen.

Hinzu kam, dass sich die Versorgung und die Gehälter verschlechterten. Innerhalb der Gruppe der deutschen Techniker entstand ein Konflikt, wie die Heimkehr nach Deutschland zu erreichen wäre: Gefügigkeit gegenüber sowjetischen Wünschen oder passiver Widerstand? Göttrup und Magnus vertraten die zweite Richtung und galten damit bei den Sowjets als „nicht linientreu“.

1951 fiel in der sowjetischen Führung der Entschluss, die deutschen Techniker in die DDR ausreisen zu lassen, allerdings je nach fachlicher Verwicklung erst nach einer „Abkühlphase“, damit der amerikanische Geheimdienst allenfalls Details der sowjetischen Raketenprogramme erfahren könnte. Erst im Juni 1952 durften 113 ehemalige Raketenspezialisten mit ihren Familien in die DDR ausreisen. Diese Gruppe galt als im sowjetischen Sinne linientreu. Deshalb wurde erwartet, dass sie in der DDR verbleiben würden, was großenteils auch geschah.

25 Techniker mit Familien mussten weiter auf der Insel ausharren, weil sie als „politisch nicht gefestigt“ eingeschätzt wurden. Ihre Quarantäne wurde um eineinhalb Jahre verlängert. Auch wurde die Insel Gorodomlija zum Quarantänelager für weitere deutsche Spezialisten, darunter ehemalige Mitarbeiter der Optikwerke Zeiss und der Flugzeugwerke Junkers. Am 20. November 1953 verließen die letzten auf der Insel Gorodomlija festgehaltenen deutschen Techniker die Sowjetunion.

Trotz Karriereofferten in der DDR setzten sich etliche von ihnen in die westdeutsche Bundesrepublik ab. Dort wurden sie vom amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA verhört. Über den aktuellen Stand der sowjetischen Raketenprojekte waren sie aber nicht mehr informiert. So schlossen die amerikanischen Experten auf einen höheren Leistungsstand der sowjetischen Raketentechnik, als er zu dem Zeitpunkt tatsächlich vorlag.

Einige Wenige deutsche Raketentechniker waren in der Sowjetunion einen Sonderweg gegangen, und zwar im Bereich von Flugabwehrraketen, nämlich des Wasserfall-Nachfolgers „S-25 Berkut“. So arbeitete noch bis 1955 ein Team unter Johannes Hoch am Feuerleitsystem, ein weiteres unter Waldemar Möller an der Lenkung. Die letzten Deutschen dieser Gruppe durften erst 1958 heimkehren.

Nun stellt sich die Frage: Was ist aus dieser Entwicklung in der Sowjetunion geworden?
Mit Herrn Dr.-Ing. Wernicke werden wir auch diese Frage konkret im nächsten Infoblatt beantworten.

kf