Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil VII)

Wie ist es nun vor 72 Jahren weiter gegangen? Dr.-Ing. Joachim Wernicke hat sich in seiner Buchbesprechung zu „Stalins V-2“, von Matthias Uhl, auch damit befasst.

Das sowjetische Raketenprogramm

Die sowjetische Führung strebte die Fähigkeit zur Massenfertigung der neuen Raketenwaffen an, und zwar ausschließlich aus Teilen sowjetischen Ursprungs. Es wurde erwartet, dass ein künftiger Krieg länger dauern würde. Hierfür sollte ausreichend und über Land verteilt Nachschub produziert werden können. So waren am Nachbau der V-2, als „R-1“ bezeichnet, 13 Forschungsinstitute und 35 Rüstungsbetriebe beteiligt.

Zwar war im Oktober 1948 der erste Start einer R-1 gelungen. Doch die Raketen der ersten Baureihe enthielten noch immer Teile aus dem deutschen Bestand oder aus dem westlichen Ausland. Auch war die technische Qualität der Raketen und folglich ihre Zuverlässigkeit unbefriedigend. Immer wieder explodierten Triebwerke bei der Zündung – ein von der V-2 unbekannter Fehler -, und die elektrische Ausrüstung erwies sich als untauglich. So waren die Militärs nicht bereit, R-1 bei der Truppe einzuführen.

Eine fast einjährige Mängelbehebung folgte. Am 10. September 1949 startete die erste R-1 der zweiten Baureihe, eine Serie von insgesamt 20 Raketen, von denen nur 3 als Fehlschläge zu bewerten waren. R-1 war damit zuverlässiger geworden als die V-2, aber den Militärs war sie noch immer nicht zuverlässig genug. So verging ein weiteres Jahr mit Nachbesserungen, bis die dritte Baureihe R-1 im November 1950 bei der Roten Armee eingeführt wurde. Zwar war die Rakete inzwischen veraltet, aber der Grundstein für die sowjetischen Raketentruppen als eigenständige Teilstreitkraft war gelegt.

Auf der Basis der R-1 folgte eine Weiterentwicklung, die“R-2“, die 1 t Sprengstoff über 600 km befördern sollte. In der Konstruktion sollten weitestgehend Teile der R-1 verwendet werden. R-2 war gegenüber R-1 verlängert, um beim gleichen Durchmesser 70 % mehr Treibstoff unterzubringen. Die Außenhülle wurde zugleich Tankwand. Der Sprengkopf wurde nach dem Ausbrennen der Rakete zum Weiterflug abgetrennt, so dass es keine Rolle mehr spielte, ob die Rakete beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zerbrach. Sie konnte also leichter gebaut werden. Zur Erhöhung der Seitengenauigkeit war zusätzlich zur Kreisellenkung eine Funkstrahllenkung eingebaut. Der Triebwerksschub war auf 37 t erhöht.

Bei 13 ersten Versuchsstarts der R-2 in Kapustin Jar im Juli 1951 erreichten 12 Sprengköpfe das Zielgebiet in 550 km Entfernung, nur eine Rakete versagte. Allerdings war den Militärs der Aufwand für den Start zu groß: 20 verschiedene Spezialfahrzeuge waren nötig, die Startvorbereitung dauerte 6 Stunden, und wegen des verdampften Sauerstoffs bestand nur ein schmales Zeitfenster von 15 Minuten für den Start der Rakete. Auch die Zerstörungswirkung war den Militärs zu gering, gemessen an dem großen Aufwand: Ein Krater von 30 m Durchmesser. Dennoch wurde R-2 im November 1951 bei der Truppe eingeführt.

Im Winter 1951/52 fanden Flugtests mit der sowjetischen Weiterentwicklung der Flugabwehrrakete Wasserfall statt, unter der Bezeichnung „R-101“. Die Ergebnisse flossen in die Konstruktion der S-25 Berkut ein. 1955 wurde diese Rakete bei der Roten Armee eingeführt. Im Westen wurde sie unter Bezeichnung „SA-1“ bekannt.

Die sowjetische Wirtschaftsplanung unterstand der Behörde GOSPLAN. Schon 1946 war dort eine Sonderabteilung „Reaktivtechnik“, also für Raketenwaffen entstanden. Deren Leiter wurde der erst 39jährige Georgij Paschkow. Ende 1946 legte er einen Perspektivplan bis 1965 (!) vor, auszugsweise: Bis 1951 eine Fernrakete mit 3.000 km Reichweite und eine Flugabwehrrakete mit 20 km Abfanghöhe. Bis 1960 eine Interkontinentalrakete mit Atomsprengkopf. Bis 1965 eine Rakete für den Start von Erdsatelliten. Im Rückblick war dieser Plan geradezu visionär: Der erste Satellit der Welt, „Sputnik 1“, startete in der Sowjetunion am 4. Oktober 1957, an der Spitze einer Interkontinentalrakete „R-7“, auf deren Testflug. Die Entwicklung der R-7 war 1953 in Koroljows Gruppe begonnen wurde. Kurz zuvor war die erste sowjetische Wasserstoffbombe gezündet worden,…ein Jahr nach den USA. R-7 sollte eine solche, damals noch 5,5 t schwere Bombe, tragen können. Es handelte sich um eine zweistufige Rakete mit neuartigen Triebwerken der Gruppe Gluschko.

Es folgte der nächste Schritt: Die Entwicklung einer Rakete mit der Fähigkeit, einen Atomsprengkopf, 1,4 t schwer, über 1.200 km Reichweite zu transportieren. Diese Rakete

R-5“ war langgestreckt und hatte mit 28 t das doppelte Gewicht der V-2. Sie kam ohne die großen Stabilisierungsflächen von V-2, R-1 und R-2 aus. Das von der Gruppe Gluschko weiterentwickelte Triebwerk, wie bei der V-2 auf der Basis von Alkohol und Flüssigsauerstoff, brachte 44 t Schubkraft. Die Erprobung dauerte von 1953 bis 1955. Sie führten zur verbesserten Version „R-5M“, die am 1. Februar 1956 erstmals mit einem scharfen Atomsprengkopf startete und in 1.200 km Entfernung diesen 0,4 kt-Sprengkopf zur Explosion brachte. Danach wurde die Sprengkraft auf 300 kt gesteigert, das über 20-Fache der Bombe, die 1945 die japanische Stadt Hiroshima zerstört hatte. Die Zielstreuung von 1,5 km sollte durch die stärkere Explosion ausgeglichen werden.

Am 21. Juni1956 wurde R-5M bei den sowjetischen Raketentruppen eingeführt, allerdings vorerst noch unausgereift. So waren die 1957 bei einer Militärparade in Moskau öffentlich gezeigten Exemplare nur Prototypen. Erst 1958 wurde die tatsächliche Einsatzbereitschaft erklärt, und 1959 erhielten die neu gegründeten „Strategischen Raketentruppen“ R-5M-Rakten, allerdings nur wenige Dutzend, denn die Weiterentwicklung „R-12“ mit 2.000 km Reichweite und mehr als 2.000 kt atomarer Sprengkraft stand vor der Auslieferung.

Nun hatte die Sowjetunion diese Raketen, aber wo wurden sie stationiert? Darüber wird im nächsten Infoblatt berichtet, denn dieses Thema behandelt Herr Wernicke eingehend in seiner Buchbesprechung.

kf