Buchbesprechung mit dem Blick auf die Gegenwart
Stalins V-2 (Teil VIII)

Wir sind im letzten Teil der Buchbesprechung von Dr.-Ing. Joachim Wernicke angekommen. Für uns ist interessant, wo sind die sowjetischen Raketen abgeblieben? Wo wurden sie stationiert und warum? Unter der Rubrik „Die Stationierung“ behandelt Herr Wernicke auch dieses Thema aus dem Buch von Matthias Uhl „Stalins V-2 – Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959“.

Die Stationierung

Mit der Reichweite 1.200 km der R-5M waren wichtige amerikanische Militärstellungen in Westeuropa von der Sowjetunion aus nicht erreichbar. Um diesen Mangel zu beheben, mussten die Raketen weiter westlich stationiert werden, außerhalb der sowjetischen Landesgrenzen.

So hatte das sowjetische Militär 1957 begonnen, in der DDR geeignete Standorte für die R-5M zu suchen, in dünn besiedelten Gebieten, mit Eisenbahnanschluss. 80 km nördlich von Berlin wurden sie fündig, in sowjetischen Militäranlagen nahe der Stadt Fürstenberg und bei dem 20 km entfernt gelegenen Dorf Vogelsang. Im Frühsommer 1958 begannen unter strikter Geheimhaltung die Bauarbeiten für die Raketenstellungen. Bauarbeiter waren ausschließlich sowjetische Soldaten. Deutsche hatten keinen Zutritt. Die DDR-Regierung war nicht gefragt, nicht einmal informiert worden.

Merkwürdigerweise trugen die sowjetischen Baufahrzeuge am hinteren Fahrgestell ein Schild „ATOM“. Dies war der örtlichen Bevölkerung aufgefallen. So erhielt der westdeutsche Geheimdienst BND die Mitteilung, dort würde wohl eine Raketenabschussbasis gebaut. Auch der britische Geheimdienst wurde auf die sowjetische Bautätigkeit aufmerksam. Im Januar 1959 waren die Bauten fertig. Augenzeugen berichten, dass dort „sehr große Bomben“ auf freier Strecke entladen wurde.

An jedem der beiden Standorte, Fürstenberg und Vogelsang, waren zwei Startrampen für R-5M vorhanden, mit drei Raketen pro Rampe, also insgesamt 12 Raketen in der DDR. Die zugehörigen Atomsprengköpfe trafen im April 1959 ein. Im Mai 1959 meldete die R-5M-Truppe Einsatzbereitschaft.

Die vorgeplanten Ziele der Raketen sind nicht bekannt. Es ist aber zu vermuten, dass die Stellungen der seit 1958 in England (in Yorkshire und Suffolk) stationierten amerikanischen Mittelstreckenraketen „Thor“ auf der Listen standen, denn sie konnten mit ihrer Reichweite 2.400 km Ziele in der Sowjetunion treffen.

Die sowjetischen Raketeneinheiten übten laufend den Einsatz ihrer Raketen, aus Geheimhaltungsgründen stets bei Nacht. Es gelang, die Dauer der Startvorbereitungen von anfangs 30 Stunden auf 6 Stunden zu senken.

Trotz ihrer technischen Zwischenrolle hatte die R-5M erstmals die scharfe Duellsituation der „atomaren Abschreckung“ ermöglicht, die seither anhält. In der „Berlin-Krise“, von 1958 bis 1962, nutzte der sowjetischen Regierungschef Chruschtschow die atomaren Fernraketen erstmals als unausgesprochenes Drohmittel.

Im Mai1959 kamen die Außenminister der vier Siegermächte in Genf zu einer wochenlangen „Deutschlandkonferenz“ zusammen. Die Bundesrepublik und die DDR durften als Beobachter teilnehmen. Die Verhandlungen stockten. Doch die USA hielten eine Überraschung bereit: Am 12. Juli übergab ein amerikanischer Unterhändler den Sowjets eine Einladung Präsident Eisenhauers an Chruschtschow zu einem baldigen Besuch in den USA.

Im August 1959 räumten die sowjetischen Raketentruppen unerwartet und überstürzt ihre

R-5M-Stellungen in der DDR. Ob es einen Zusammenhang mit der Genfer Konferenz gab, ist laut Matthias Uhl mangels Zugangs zu den Dokumentenarchiven noch ungeklärt.

Am 15. September 1959 traf Chruschtschow mit Ehefrau Nina und Tochter Julia zu einem zweiwöchigen Aufenthalt in den USA ein. Er wurde von Eisenhauer herzlich empfangen. Das Berlin-Ultimatum war vom Tisch.

Bei der abschließenden Frage nach dem Einfluss des deutschen Beutegutes auf die sowjetische Raketenentwicklung nach der Isolation der deutschen Techniker drängen sich zumindest zwei Punkte auf: R-1 als V-2-Kopie, R-2 als V-2-Weiterentwicklung, aber auch R-5M und sogar noch deren Nachfolger R-12 als sowjetische Weiterentwicklung haben alle denselben Rumpfdurchmesser 1,65 m. Dies lässt vermuten, dass die deutschen V-2-Fertigungsanlagen für die Zellen dieser sowjetischen Raketen verwendet wurden. Und als zweiter Punkt: In ihrer Isolation hatten die deutschen Raketentechniker diverse Projektstudien über Weiterentwicklungen angefertigt und ihren sowjetischen Auftraggebern ausgehändigt. Darunter befanden sich auch einstufige Raketen in schlanker Kegelbauform. Ob die charakteristischen kegelförmigen Starthilfe-Booster der Interkontinentalraketen R-7 und des daraus abgeleiteten Raumfahrtträgers „Sojus“ auf diese deutschen Entwürfe zurückgehen, ist ungeklärt. In der sowjetischen Geschichtsschreibung wurde geleugnet, welche tragende Bedeutung der Technologietransfer aus Deutschland nach 1945 hatte.

Damit möchte ich die Buchbesprechung von Dr.-Ing. J. Wernicke beenden.
Wer sich für das Buch von Matthias Uhl interessiert, hier die weiteren Angaben:

Matthias Uhl

Stalins V-2 – Der Technologietransfer der deutschen Fernlenkwaffentechnik in die UdSSR und der Aufbau der sowjetischen Raketenindustrie 1945 bis 1959

Bonn 2016: Bernhard & Gaefe/Mönch, Lizenzausgabe Helios,
ISBN 978-3-86933-176-8, 304 Seiten, Großformat

kf




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